Einiges aus der Geschichte des Strohdachhauses in Timmendorfer Strand

Von Dr. Heiner Herde

Das Reetdachhaus in neuem Glanz bei der Wiedereröffnung
nach der Sanierung im September 2011

 

Das Reetdachhaus, mitten im Zentrum von Timmendorfer Strand gelegen, von manchen auch Strohdachhaus genannt, kann eine bewegte Geschichte vorweisen. Erbaut wurde es zu einer Zeit, als Timmendorfer Strand und seine Nachbargemeinden noch oldenburgisch waren, im Jahr 1924. Zwar hatte das Großherzogtum Oldenburg mit dem Ende des Ersten Weltkriegs aufgehört zu existieren, aber es hatte mit dem Freistaat Oldenburg einen Nachfolger erhalten. Und zu diesem gehörte auch weiterhin das Fürstentum Lübeck, jetzt aber mit dem Namen „Landesteil Lübeck des Freistaates Oldenburg“.

 

Eine Ansicht aus dem Jahr 1925 (Quelle: Gemeindearchiv)

Nachdem sich die durch die einschneidenden Veränderungen des Ersten Weltkriegs entstandene Unruhe gelegt hatte und sich auch verstärkt die Gäste wieder zu Badekuren und Ferientagen in den Seebädern einfanden, ordnetedie Eutiner Regierung des oldenburgischen Landesteils die Verwaltung der Seebäder Timmendorfer Strand, Niendorf, Scharbeutz und Haffkrug neu, die auch weiterhin den Beinamen „oldenburgisch“ trugen.

Misstrauen verhindert Zusammenarbeit

Die Bildung einer eigenen Strandgemeinde aus den vier Badeorten war kurz im Gespräch, wurde aber abgelehnt mit der Begründung, dass „die mißgünstige Einstellung der einen einzelnen Bäder eine gute Zusammenarbeit unmöglich macht.“ Immerhin sollte aber die Verwaltung in allen die Seebäder gemeinsam betreffenden Angelegenheiten zusammengefast werden, eben in einer gemeinsamen Bäderverwaltung.

Als Amtssitz wurde dafür Timmendorfer Strand ausgewählt und die Leitung dem Timmendorfer Kurdirektor Riechers übertragen.1924 wurde das Dienstgebäude in der Nähe des damaligen „Warmbades“, dessen Platz heute die Curschmannklinik einnimmt, eingeweiht.Das schmucke rote Backsteingebäude, bekannt als „Reetdachhaus“, strahlt nach einer grundlegenden Sanierung in neuem, alten Glanz. Es ist das älteste, noch aus der oldenburgischen Zeit stammende Gebäude in Timmendorfer Strand.

Erschütternde Schicksale

Auch nach der 1937 - infolge des Groß-Hamburg Gesetzes - von den Nazi-Behörden vollzogenen Eingliederung des Landesteils Lübeck als Landkreis Eutin in die Provinz Schleswig-Holstein blieb die Bäderverwaltung bestehen und war weiterhin für den Bäder- und Kurbetrieb in den vier Ostseebädern zuständig.

Wir wissen leider wenig, wofür die „Bäderverwaltung“ im Einzelnen alles zuständig war, was sie zu regeln hatte. Die Akten aus der damaligen Zeit sind fast alle verschwunden, bis auf einige wenige Ordner, die im Keller des Rathauses gelagert waren.

Zu den interessantesten Fundstücken in diesen Ordnern gehörten Briefe, die ein bezeichnendes und erschütterndesLicht auf die Verhältnisse in den 1930er Jahren werfen. Es sind Briefe von Juden aus dem Jahr 1939, in denen sie nachfragen, ob es ihnen gestattet ist, zu einer Badekur nach Timmendorfer Strand zu kommen.

Es schmerzt, diese Briefe zu lesen. So etwa den von Erna Gottfeld aus Berlin vom 3.8.1939: „Hätte gern gewußt, ob ich als Nichtarierin (absolut nicht danach aussehend) mit meinem 5jährig Mädel nach dort kommen könnte. Oder weisen Sie mir bitte ein jüd. Haus, nur für Juden dort nach.“

Als dieser Brief geschrieben wurde, gab es bereits den Erlass desInnenministeriums vom 21. Juni 1939, wonach jüdische Kurgäste nur ausnahmsweise und mit ärztlichem Attest in Heilbädern zugelassen sind.Das Ziel der Nazis war klar: Deutsche Strände sollten judenfrei sein.

Leider sind die Antwortbriefe der Kurverwaltung nicht erhalten, bis auf einen, gerichtet an einen Friedrich Kratzat in Berlin und datiert auf den 24. Juni 1939: „Bezugnehmend auf Ihr Schreiben vom 22. J. ds. Teilen wir Ihnen mit, dass Juden in unserem Badeort unterwünscht sind und wir Ihnen infolgedesse auch kein Fremdenheim nachweisen können.“

Aktenfund bei den Sanierungsarbeiten

Aufmerksamkeit verdient noch ein anderer Aktenfund aus jüngster Zeit.Bei Sanierungsarbeiten fanden Bauarbeiter im Sommer 2011in einer Mauerspalte des Kellers eine dünne Akte des „Kreisausschusses Eutin“ aus dem Jahre 1938 mit der Aufschrift „K.D.F. Bad an der Lübecker Bucht“.

Der „Kreisausschuss“ war in der Eutiner Kreisverwaltung ab 1937 nach der Eingliederung des oldenburgischen Landesteils Lübeck in die Provinz Schleswig-Holsteinals Aufsichtsbehörde für „Bäderverwaltung“ und damit für alle im Kreisgebiet gelegenen Ostseebäder zuständig.

Die erste Seite der Akte und offensichtlich auch Anlass für deren Anlage bildet ein Zeitungsartikel der in Kiel erscheinenden NS-parteiamtlichen „Nordischen Rundschau“ vom 23. März 1938, der Bezug nimmt auf ein Interview mit Dr. Robert Ley, dem Leiter der nationalsozialistischen „DeutschenArbeitsfront“ und damit auch Leiter der NS-Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“.

Was die Zeitungsleser in Timmendorfer Strand und der Lübecker Bucht aufhorchen ließ, waren die beiden vorletzten Absätze des Artikels: „An der Ostseeküste entstehen vier große KdF-Bäder, eins davon in der Lübecker Bucht am Timmendorfer Strand. Das zweite auf Rügen befindet sich bereits im Bau. Das dritte Bad wird in Pommern, bei Kolberg oder Köslin, entstehen, und das vierte in Ostpreußen. Diese vier KdF.-Bäder werden die größten Badeanlagen der Welt sein, einzigartig in Anlage und Ausgestaltung.“

Timmendorfer Strand blieb schlimmes Bauschicksal erspart

Wer die KdF-Anlage in Prora auf Rügen kennt, die ja glücklicherweise nie fertiggestellt wurde, aber als Ruine erhalten ist, kann ermessen, was da Timmendorfer Strand drohte:

Ein uniformierter Betonklotz im Einheitslook mit Einheitsunterkünften für 20 000 Menschen, mit integrierten Restaurants und Cáfes, dazu ein riesiger Veranstaltungs- und Kinosaal, ebenfalls für 20 000 Besucher.

Die Strandpromenade in Timmendorfer Strand mit ihren schattenspendenden Kiefern wäre verschwunden, alle Gebäude in der ersten und zweiten Reihe würden dem Erdboden gleich gemacht, die alteingesessenen Hotels,Pensionen, Restaurants, Cafés und Geschäfte müssten ins Hinterland abwandern, sofern sie überhaupt noch geduldet würden. Timmendorfer Strand, so wie es in Jahrzehnten gewachsen war, gäbe es nicht mehr.

So etwas konnte und wollte sich niemand in Timmendorfer Strand vorstellen. Vor allem die Hoteliers und Pensionsinhaber wollten die Pläne nicht widerspruchslos hinnehmen. Einige von ihnen suchten daher das Gespräch mit dem NSDAP-Landrat in Eutin. Schließlich ging es hier um ihre Existenz.

Am 28. März 1938 wendet sich der Landrat schriftlich an die Deutsche Arbeitsfront, an den„sehr geehrten Parteigenossen Malitz“. Die Erklärung des Reichsorganisationsleiter Dr. Ley habe „in sämtlichen vier Bädern des Kreises Eutin grössteBestürzung hervorgerufen“. Er bitte deshalb darum, möglichst bald „nach hier“ zu kommen, „um die örtlichen Verhältnisse daraufhin zu untersuchen, ob die Errichtung eines KdF-Bades in Timmendorferstand möglich ist oder nicht.“

Parteigenosse Maletz antwortet umgehend, am 31. März 1938: Das „Gelände für die geplanten 2 KdF-Seebäder in der Lübecker Bucht“ sei noch nicht festgelegt. Für dieses Jahr brauchten „von Seiten der Hotel- und Pensionsinhaber keinerlei Befürchtungen gehegt werden“. Eine Besichtigung vor Ort könne nicht vor dem 10. April erfolgen.

Ob diese erfolgt ist und mit welchem Ergebnis, darüber schweigt sich die Akte aus. Das letzte Aktenblatt ist ein Vermerk vom 19. November 1938 über den Besuch eines Mitar-beiters des „Kreisausschusses“ bei der KdF.-Kreisleitung in Eutin. Der Kassenleiter der Organisation erklärte dabei, „dass nach seiner Information an die Errichtung eines K.D.F.-Bades an der Lübecker Bucht vor 1950 überhaupt nicht zu denken sei. Ferner kämen für die Errichtung eines K.d.F.-Bades die Ostseebäder des Kreises Eutin überhaupt nicht in Frage, Dr. Ley habe mit Lübecker Bucht den Bezirk Mecklenburg gemeint. Zunächst soll das K.d.F.-Bad Binz fertiggestellt werden, was noch bis 1942 dauern wird.“



Der Sitz der Bäderverwaltung im Winter 1945 (Quelle:Gemeindearchiv)


Es sollte alles anders kommen, glücklicherweise, wenn auch höchst leidvollen Umständen. Das KdF-Bad in Prora wurde nie fertiggestellt. Timmendorfer Strand blieb so, wie es sich im Laufe der Jahre entwickelt hatte.

Nutzung nach dem Krieg

Auch das Reetdachhaus überstand die Zeiten des zweiten Weltkriegs, ohne irgendwelche äußeren Beeinträchtigungen. In der Nachkriegszeit kamen kurzzeitig hier Flüchtlinge unter, dannwurde das Gebäude als Kurverwaltung genutzt, diesmal aber nur für die neu gebildete Gemeinde Timmendorfer Strand zuständig, zu der auch Niendorf gehörte.

Zwischendurch musste auch noch Platz gemacht werden für das Bürgermeisteramt der neuen Gemeinde. Wohl um zusätzlichen Raum zu gewinnen, wurde das Säulen-Entree oberhalb des repräsentativen Treppenaufgangs zugunsten eines schlichten Eingangs mit drei Tür-Elementen aufgelöst. Noch einmal später wurde, um Parkplätze zu erhalten, der breite Treppenaufgang durch eine sehr schlichte Waschbetontreppe ersetzt.

Ende der 60er Jahre siedelte die Kurverwaltung in das von der Gemeinde als Rathaus genutzte „Olgaheim“ am Timmendorfer Platz um. In das Reetdachhaus zog der leitende Arzt der Curschmann-Klinik ein, um die Räume als Privatpraxis zu nutzen.

Anfang der 1990er Jahre wurde die Praxis aufgegeben, und es setzte eine ausführliche Diskussion um die zukünftige Nutzung des Gebäudes ein. Von manch interessierter Seite wurde der Verkauf ins Gespräch gebracht, zumal dieexponierte undbegehrte Lage bei einem Verkauf eine kräftige Entlastung des Gemeindehaushalts versprach.

Haus der Senioren

Aber es kam anders. Nach umfangreichen Renovierungsarbeiten fand das Reetdachhausim Mai 1993 seine neue Bestimmung: als „Haus der Senioren“, eine Lösung für die sich neben vielen Privatleuten auch der damalige Bürgermeister Fandrey eingesetzt hatte.

Nicht nur der „Seniorentreff“ und die Seniorengruppe der Arbeiterwohlfahrt fanden hier nun ein Zuhause, auch der Schachverein, der Reichsbund, der Kulturkreis und eine Malgruppe durften die Räumlichkeiten nutzen, zu der auch eine voll eingerichtete Küche gehörte.Für einen Teil der Inneneinrichtung konnte auf das Erbe einer Timmendorfer Bürgerin zurückgegriffen werden.

Seitdem hat sich der Kreis der Nutzer geändert, so ist seit dem Jahre 2007 im Dachgeschoß des Gebäudes das Heimatarchiv untergebracht. Aber das Reetdachhaus ist auch heute noch vorwiegend ein „Haus der Senioren“. Und dabei soll es nach dem Willen aller Verantwortlichen auch bleiben. Erst recht nach der umfangreichen energetischen Sanierung des Gebäudes im Jahre 2011.

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